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Bundespolizeigesetz: Schleierfahndung im 30 km-Grenzgebiet europarechtswidrig

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil des Ersten Senats vom 13.02.2018, 1 S 1468/17 und 1 S 1469/17

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hatte über die Zulässigkeit polizeilicher Identitätskontrollen im Grenzgebiet im Rahmen der sogenannten Schleierfahndung nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG zu entscheiden.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg stellte fest, dass die auf § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG beruhende Schleierfahndung und dementsprechende Identitätskontrollen durch die Bundespolizei im 30 km-Grenzgebiet europarechtswidrig sind. Der von der Europäischen Union erlassene Schengener Grenzkodex hat nämlich Grenzkontrollen zwischen den am Schengen-System teilnehmenden Ländern abgeschafft, gestattet diesen jedoch die Ausübung allgemeiner polizeilicher Befugnisse auch im Grenzgebiet, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben.

Nach der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere nach dessen Urteil vom 21. Juni 2017 (s.unten) müsse Deutschland - um eine solche gleiche Wirkung auszuschließen – allerdings einen Rechtsrahmen schaffen, der konkretisiere, unter welchen Bedingungen Kontrollen im 30 km-Grenzgebiet stattfinden dürften, und damit solche Kontrollen in ihrer Intensität und Häufigkeit beschränke.

Die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG enthält die vom EuGH verlangten Konkretisierungen und Beschränkungen nicht, auch nicht im Zusammenwirken mit den damals für die Bundespolizei geltenden Verwaltungsvorschriften „BRAS 120“. Den erforderlichen Rechtsrahmen können diese Verwaltungsvorschriften schon deswegen nicht darstellen, da sie nicht allgemein veröffentlicht seien. Sie sind daher für die betroffenen Bürger nicht zugänglich und die aus ihnen resultierende Rechtsanwendung für die Betroffenen nicht vorhersehbar. Auch inhaltlich genügten die „BRAS 120“ nicht dem Zweck, die Häufigkeit der Kontrollen im Grenzgebiet insgesamt effektiv zu beschränken, denn sie regelten nur die Kontrolle im Einzelfall und enthielten beispielsweise keine Beschränkung auf stichprobenartige Kontrollen.

 

Maßnahmen im Schengen-Raum, die zwar keine Grenzkontrollen sind, aber doch die gleiche Wirkung haben, verstoßen gegen Unionsrecht, wenn sie nicht vom Gesetz ausreichend eng umrissen werden

EuGH, Urteil der Ersten Kammer vom 21.06.2017, Strafverfahren gegen A. vor dem AG Kehl, C-9/16

Der Angeklagte vor dem Amtsgericht Kehl (AG Kehl, Entscheidung vom 22.04.2016, 3 Cs 302 Js 10848/15), Herr A.,  hatte versucht, sich im Bahnhof Kehl nach dem Überqueren der Europabrücke von Straßburg nach Kehl gewaltsam einer Ausweiskontrolle durch die deutsche Bundespolizei zu entziehen. Daraufhin wurde er wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB angeklagt. Laut AG Kehl müsste die Strafbarkeit des Angeklagten entfallen, wenn die Ausweiskontrolle rechtswidrig gewesen war. Zwar wäre die Kontrolle der Identität des Angeklagten nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 oder § 22 Abs. 1a BPolG durch die Bundespolizei zulässig gewesen, das AG Kehl hatte jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Normen mit dem Unionsrecht (vgl. EuGH vom 22.06.2010 zu Melki und Abdeli) und legte deshalb ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH vor.

Der EuGH betonte zunächst, dass die Binnengrenzen der EU gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV und Art. 20 und 21 Schengener Grenzkodex nicht kontrolliert werden. Davon unberührt bleibt allerdings die Ausübung der polizeilichen Befugnisse nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern diese nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat.

Die in § 23 Abs. 1 Nr. 3 und § 22 Abs. 1a BPolG normierten Kontrollen lassen allerdings darauf schließen, dass sie unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person und von Umständen, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, gestattet sind. Darüber hinaus scheinen die genannten Rechtsgrundlagen insbesondere hinsichtlich der Intensität und der Häufigkeit der auf sie gestützten Kontrollen weder Konkretisierungen noch Einschränkungen zu enthalten, die verhindern würden, dass die Anwendung und die praktische Ausübung dieser Befugnis durch die zuständigen Behörden zu Kontrollen führen, die die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben. Der EuGH stellte klar, dass der erforderliche Rahmen hinreichend genau und detailliert sein muss, damit sowohl die Notwendigkeit der Kontrollen als auch die konkret gestatteten Kontrollmaßnahmen selbst gerichtlichen Kontrollen unterzogen werden können.

Aufgrund der tatbestandlichen Unbestimmtheit dieser Rechtsgrundlagen droht im deutschen Fall aber eine Verwaltungspraxis, welche die gleichen Wirkungen wie Grenzkontrollen haben könnte und somit gegen den Schengener Grenzkodex verstoßen würde. Es ist jedoch Sache des für Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob es sich in der Praxis so verhält. Dabei genügen dem EuGH zur Konkretisierung nun wohl, anders als im Urteil zu Melki und Abdeli, auch bloße Verwaltungsvorschriften und Verwaltungserlasse.

 

„Racial Profiling“ in der Regionalbahn als Diskriminierung, BUG e.V. als Beistand

Oberverwaltungsgericht Koblenz, Urteil vom 21.04.2016, 7 A 11108/14

Die Kläger, deutsche Staatsangehörige mit dunkler Hautfarbe, reisten mit ihren beiden Kindern in der Regionalbahn von Mainz nach Koblenz und unterhielten sich dabei auf Englisch. Sie wurden als einzige Reisende im Zug von einem Polizeibeamten aufgefordert, ihre Ausweise vorzulegen, wobei zwischen den Beteiligten streitig ist, ob und wie davor eine Befragung stattgefunden hat. Die Polizeibeamten führten im Rahmen dieser verdachtsunabhängigen Kontrolle nach § 22 Abs. 1a BPolG einen Datenabgleich durch und verließen daraufhin den Zug wieder.

Das Verwaltungsgericht hat in der ersten Instanz zugunsten der Kläger entschieden, dass die Maßnahmen der Bundespolizei rechtswidrig gewesen waren. Die Bundespolizei hat daraufhin Berufung eingelegt.

Das Oberverwaltungsgericht Koblenz stellte fest, dass die Berufung der Beklagten unbegründet ist und die Maßnahme der Bundespolizei wegen eines Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ermessensfehlerhaft war.

Das OVG Koblenz betonte, dass § 22 Abs. 1a BPolG eine generalpräventive Funktion zur Verhinderung und Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet habe und keinen strukturell angelegten Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthalte. Auch sei der räumliche Geltungsbereich nicht auf grenzüberfahrende Züge beschränkt. Weiterhin sei die Norm verhältnismäßig und mit dem Unionsrecht vereinbar. Bei Berufung der Bundespolizei auf Lageerkenntnisse müssen diese gerichtlich kontrollierbar sein.

Allerdings liegt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht erst vor, wenn die Ungleichbehandlung ausschließlich oder ausschlaggebend an eines der dort genannten Merkmale anknüpft, sondern bereits dann, wenn bei einem Motivbündel ein unzulässiges Differenzierungsmerkmal ein tragendes Kriterium unter mehreren gewesen ist. Eine verdachtsunabhängige Kontrolle nach § 22 Abs. 1a BPolG in Anknüpfung an die Hautfarbe ist unzulässig. Allerdings folgt aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG keine prozessuale Beweislastumkehr. Wird bei Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG anstelle einer "Jedermann-Kontrolle" eine Vorauswahl der zu kontrollierenden Personen getroffen, setzt eine solche zielgerichtete Auswahl eine schlüssige, die Auswahlentscheidung tragende Begründung voraus. Erst wenn die für die Auswahl gegebene Begründung sich als nicht belastbar bzw. nicht nachvollziehbar erweist, trägt die Bundespolizei letztlich die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass keine gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstoßende Auswahlentscheidung getroffen wurde. Im vorliegenden Fall knüpfte die Kontrolle in unzulässiger Weise an die Hautfarbe der Kläger an und war deshalb rechtswidrig.

 

Kein Anspruch auf eine hinsichtlich der Herkunftssprache bestmögliche Verteilung von Schüler*innen auf ihre Klassen

Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 26.09.2013, 3 K 269.12, 3 K 270.12, 3 K 271.12

Die Klägerin erhielt in der Grundschule stets Noten zwischen 1 und 3 und auch ihr Arbeits- und Sozialverhalten wurde durchgehend positiv beurteilt. Während des Grundschulbesuchs nahm sie an Fördermaßnahmen für deutsche Sprachkenntnisse teilt. In einer Förderprognose bestätigte ihr die Grundschule eine Durchschnittsnote von 2,15 und empfahl für den weiteren Schulbesuch das Gymnasium oder eine integrierte Sekundarschule. Ihre Eltern meldeten sie daraufhin an einem Gymnasium an, in welchem sie aufgrund ihrer Sprachwahl einer Klasse zugeteilt wurde, in der Französisch als zweite Fremdsprache gelehrt wurde. In einem Schreiben teilte die Schule den Eltern der Klägerin mit, dass diese die Probezeit in der 7. Klasse nicht bestanden habe, da ihre Leistungen in sechs Fächern nicht mehr ausreichend seien. Auch die Beurteilung ihres Arbeits- und Sozialverhaltens fiel negativ aus.

Die Klägerin begehrte die Feststellung der Rechtswidrigkeit ihrer Nichtversetzung. Sie führte an, dass sie als Schülerin der weiterführenden Schule in mehrfacher Weise diskriminiert worden sei, unter anderem dadurch, dass sie einer Klasse mit einem zu hohen Anteil überwiegend türkischsprachiger Schüler zugewiesen worden sei. Infolgedessen habe sie ihr Leistungsvermögen nicht umsetzen können. Ihre Minderleistungen, die zum Nichtbestehen der Probezeit geführt hätten, beruhten daher nicht auf von ihr zu vertretenden Umständen.

Das Gericht wies die Klage als unbegründet ab. Die Bildung von Klassen und die Zuweisung einzelner Schüler zu bestimmten Klassen sind Maßnahmen der Schulorganisation, bei denen die Schule einen weiten Gestaltungsspielraum hat, um einen effektiven Unterrichtsablauf zu gewährleisten. Es besteht kein individualrechtlich ausgestalteter Anspruch auf eine hinsichtlich der Herkunftssprache bestmögliche Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die einzelnen Klassen einer mehrzügig ausgestalteten Jahrgangsstufe. Werden Klassenverbände nicht nach der Herkunftssprache der Schüler zusammengestellt, führt dies nicht zu einer strukturellen Diskriminierung, denn es nicht zu belegen, dass ein höherer Anteil von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache in einer Schulklasse für den einzelnen Schüler dieser Klasse zu einer ihm nicht zuzurechnenden Leistungsminderung führt.

Aus statistisch ermittelten "Kompositionseffekten" kann ein einzelner Schüler keinen Anspruch auf eine bessere Benotung oder gar einen Versetzungsanspruch trotz dafür nicht ausreichender Leistungen herleiten

 

Anforderungen an eine nationale Befugnisnorm zur Identitätskontrolle nach Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen

EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 22.06.2010, Aziz Melki und Sélim Abdeli, C-188/10 und C-189/10

In einem vom französischen Kassationshof vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen vor dem EuGH ging es um die Frage nach den Anforderungen an eine nationale Befugnisnorm, die Identitätskontrollen nach Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen im Rahmen des Schengener Grenzkodex (Art . 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006) im Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Schengenstaaten und einer diesseits der Grenze im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie erlaubt.

Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 des Schengener Grenzkodex stehen einer nationalen Regelung entgegen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landesgrenze dieses Staates zu anderen Schengenstaaten die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. Damit erklärt der EuGH die verdachtsunabhängigen Kontrollen nicht grundsätzlich für unvereinbar mit dem Unionsrecht. Zu den hohen Anforderungen an solche Kontrollen gehört allerdings, dass die Kontrollen nicht an den Grenzen, sondern im Hoheitsgebiet stattfinden, und die Kontrollen unabhängig vom Überschreiten der Grenze durch die kontrollierte Person stattfinden. Um dem Erfordernis der Rechtssicherheit gerecht zu werden, muss eine solche Befugnisnorm zudem selbst den erforderlichen Rahmen vorgeben, um insbesondere das Ermessen zu lenken, über das die Behörden bei der tatsächlichen Handhabung der Befugnis verfügen.

 

„Racial Profiling“ durch spanische Polizei ist ethnische Diskriminierung

International Covenant on Civil and Political Rights, Human Rights Committee, CCPR/C/96/D/1493/2006, 17.08.2009, Views, Communication No. 1493/2006, Lecraft vs. Spain

Die Beschwerdeführerin, die mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn unterwegs war, wurde bei ihrer Ankunft an einem spanischen Bahnhof als einzige Reisende von einem Polizeibeamten aufgefordert, sich auszuweisen. Auf Nachfrage gab der Polizeibeamte an, dass die spanische Polizei zur Bekämpfung illegaler Einwanderung primär Menschen mit dunkler Hautfarbe, wie die Beschwerdeführerin, kontrollieren würde. 

Sämtliche spanische Gerichte wiesen die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen das Vorgehen der Polizei ab.

Die Beschwerdeführerin gelangte daraufhin im Jahr 2006 an den UN-Menschenrechtsausschuss und rügte eine Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 26 des UN-Zivilpakts.

Der UN-Menschenrechtsausschuss betonte, dass Polizeikontrollen im Allgemeinen und zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung im Besonderen einen legitimen Zweck verfolgten. Daneben bedürfe es aber auch vernünftiger und objektiver Gründe, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall stellte er klar, dass die Hautfarbe kein verlässliches Kriterium ist, um auf den illegalen Aufenthalt einer Person in Spanien zu schließen. Werden Kontrollen ausschließlich bei Personen durchgeführt, welche gewisse physische oder ethnische Merkmale aufweisen, kommt dies einer unzulässigen direkten Diskriminierung gleich.